Unsere Vorfahren waren womöglich Babyloniern und Griechen weit voraus: Die Himmelsscheibe von Nebra zeugt von einer hochstehenden Kultur schon in der Bronzezeit. In unserer neuen Sonderausgabe «Geheime Geschichte – Von den Pharaonen bis zur Kabale im Vatikan» zeigen wir Ihnen anhand einer Vielzahl von Beispielen, warum nicht nur die Frühgeschichte der Menschheit ganz anders war, als es man uns heute erzählt. Hier mehr erfahren.
_ von Amelie Winther
Sie sei «kein ungefähres lunisolares Kalendarium mit oder ohne Schaltregel, keine vage Finsternisvorhersage, kein profaner Bauernkalender», sondern nichts weniger als die plastische Darlegung einer «Gotterkenntnis». Dieses Urteil fällt der Archäologe Christoph Sommerfeld über die Himmelsscheibe von Nebra.
Mit der etwa 4.000 Jahre alten Bronzeplatte sei nämlich «die Erkenntnis bekundet {worden}, dass die Lichtgestirne – jedes für sich eigenartig und unvergleichlich in Gestalt, Bahn und Sichtbarwerden – einem gemeinsamen Gleichmaß unterliegen. Es ist die Erkenntnis, dass der Rhythmus des Lichts eine Ordnung offenbart. Diese Gotterkenntnis wird in der entwickelten Frühbronzezeit bildschriftlich niedergelegt.» Zuverlässigkeit und Stetigkeit des Lichts bildeten also das religiöse Fundament der Bronzezeit, die Himmelsscheibe ist die Bildikone dazu, das selbstbewusste Zeugnis des Menschen, der im übertragenen Sinne das Dunkel «durchschaut» hat.
Eine vergessene Hochkultur
Für seine These bemühte Sommerfeld in einem Aufsatz von 2012 mathematische Operationen, die auf die ursprüngliche Gestalt des mehrfach veränderten Artefakts angewiesen sind – mit nämlich 32 Sternen, von denen 25 ohne konkreten Zusammenhang und die restlichen als Gruppe angebracht wurden, wobei für ihn unerheblich ist, dass man diesen Sternenhaufen oft als Plejaden identifiziert.
Diese Herleitung steht und fällt mit den beiden großen Applikationen auf der Scheibe: Für ihn sind dies Sonne und Mond (für andere Interpreten hingegen Vollmond und zunehmender Mond). Die Platte stecke voller Hinweise auf den sogenannten Meton-Zyklus, einen antiker Mondkalender, mit dem der Mathematiker der Himmelsscheibe weit früher als Babylonier und Griechen die Phasen des Trabanten so genau berechnen konnte, dass ein präziser Abgleich von Mond- und Sonnenjahren möglich war.

Man merkt: Die am 4. Juli 1999 von Raubgräbern auf dem Mittelberg nahe des Unstrutdorfs Nebra in Sachsen-Anhalt entdeckte Himmelsscheibe ist nicht nur Gegenstand solcher Orchideenfächer wie Ethnomathematik und Paläoastronomie. Kein Quadratzentimeter kann so genau vermessen und erforscht werden, dass er stets nicht noch Raum für neue Überlegungen böte. Werden der archäologischen Sensation jemals ihre letzten Geheimnisse entlockt? Haben die Konstrukteure der Himmelsscheibe ihre Botschaft so gut verschlüsselt, dass sie nach ihnen niemandem mehr vollständig erschließbar ist – oder fehlt uns heute einfach der Zugang zu dieser Art des Denkens und Deutens?
Schon vor einigen Jahren ließen sich unterm Digitalmikroskop vorgeschichtliche Reinigungsspuren entdecken. Allein diese Winzigkeit eröffnet neue Möglichkeiten für Spekulationen und wissenschaftliche Thesen: Wer hat die Himmelsscheibe auf Hochglanz polieren lassen? Und warum? Stoff auf jeden Fall für die Vermutung, dass mit der sogenannten Aunjetitzer Kultur über vier Jahrhunderte ein prähistorisches Reich mit Mittelpunkt zwischen Harz und Elbe bestanden hat, dessen Ausmaß und Organisation bis dato nicht vorstellbar waren und das den heute bekannteren frühen Hochkulturen in nichts nachstand.

Zu den harten Fakten: Der Durchmesser der Bronzescheibe beträgt etwa 32 Zentimeter, sie ist in der Mitte 4,5 Millimeter dick (an den Rändern 1,7 Millimeter) und wiegt 2,3 Kilogramm. Das Kupfer der Bronze wurde einwandfrei der Lagerstätte Mitterberg bei Salzburg zugeordnet, mittlerweile gehen Forscher davon aus, dass sowohl das Zinn als auch das Gold der Applikationen aus Cornwall in England stammen. Durch hohe Hitzeeinwirkung während der Bearbeitung verfärbte sich die Scheibe zu ihrem ursprünglich fast schwarzen Tiefbraun, was freilich den Eindruck eines nächtlichen (!) Himmels noch verstärken würde. Grün wurde sie erst durch die lange Lagerung in der Erde.
Wahrscheinlich um 1.600 vor Christus vergrub man sie. Ihr Fundort bietet bei guter Sicht einen Blick auf die an sich schon sagenumwobenen Höhenzüge von Harz und Kyffhäuser – und zu allem Überfluss befindet sich die Fundstelle auf demselben Breitengrad wie Stonehenge, dem europäischen steinzeitlichen Kultort und frühgeschichtlichen Enigma schlechthin. Mithilfe der in einer zweiten Phase ergänzten Horizontbögen auf der Himmelsscheibe konnte am Fundort unter Ausrichtung auf den Brocken die Winter- beziehungsweise Sommersonnenwende bestimmt werden.
Noch etwas später fügte ein bronzezeitlicher Schmied die sogenannte Sonnenbarke hinzu (vorbehaltlich abweichender Meinungen, wonach es sich hier um die Darstellung der Neumondsichel handelt). Laut Arche Nebra, dem Besucherzentrum vor Ort, haben wir es hier mit einem mythischen Element zu tun, das das astronomische Instrument endgültig zum Kultgegenstand erhöht: Wenn es tatsächlich das Schiff darstellt, das die Sonne im Tageslauf von Ost nach West bringt, wäre es die erste Darstellung dieses zentralen Symbols in Europa. Die Schiffsreise der Sonne findet man in der Vorstellungswelt früher Völker von Skandinavien bis Ägypten. Der dänische Archäologe und Bronzezeitexperte Flemming Kaul geht von einer direkten Verbindung aus, die durch eine weit gereiste Elite der nordischen Gesellschaft zustande gekommen sein könnte.
Geheimes Herrschaftswissen
Wie lauten Meinungen zum Bildprogramm der Himmelsscheibe, die seit 2013 zum Weltdokumentenerbe zählt? Der auf Archäoastronomie spezialisierte Wissenschaftler Wolfhard Schlosser legte dar, dass sich in der Darstellung von Mond und Plejaden (so man die sieben gruppierten Goldplättchen dafür hält) eine uralte Bauernregel wiederfindet: «Das Siebengestirn in der Abendröte, der Ochse in der Furche.» Die Konstellation Plejaden – Mond beschreibt demnach die Zeit der Frühlingssaat.
Der Astronom Rahlf Hansen vom Hamburger Planetarium plädierte dafür, wenn man die Scheibe schon als konkrete astronomische Abbildung begreift, in der Sichel die naturalistische Wiedergabe eines drei bis vier Tage alten Neumonds zu sehen. Seine These: Die Himmelsscheibe ist ein Instrument zur Festlegung von Schaltjahren, in denen nämlich Plejaden und diese Mondphase ähnlich am Himmel stehen wie auf der Scheibe gezeigt.
Das wiederum führt zu soziologischen Überlegungen: Dem Bauern, der sich an anderen Naturerscheinungen orientiert, konnte die Synchronisierung von Sonnen- und Mondjahren egal sein. Eine organisierte Verwaltung im Aunjetitzer Reich aber hätte Interesse und Möglichkeit, diese kalendarische Besonderheit zu berechnen, um Schaltmonate administrativ durchzusetzen und zu nutzen.
Die Himmelsscheibe kann gleichermaßen als Kultgegenstand, Ikone und kalendarisches Werkzeug gesehen werden. Die Herkunft ihrer Bestandteile reicht von den Ostalpen bis nach England, religiöse Aufladung und astronomische Finesse finden Analogien in ferneren Erdteilen. Eine einflussreiche, transzendental denkende Persönlichkeit mit entsprechend geistigem Horizont und womöglich politischen Motiven und Mitteln dürfte sie in Auftrag gegeben haben.
Letztgültig geklärt ist auch hier nichts. Bei Raßnitz im Saalekreis wurde zwischen 2014 und 2017 der bronzezeitliche Grabhügel Bornhöck untersucht, der als letzte Ruhestätte eines überaus reichen Fürsten der Aunjetitzer Zeit gilt. Die Bestattungsbeigaben deuten auf weitreichende Handelsbeziehungen bis mindestens Südosteuropa hin.
Pyramide des Nordens
Harald Meller, als Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Sachsen-Anhalt sozusagen der aktuelle Herr der Himmelsscheibe, und Kai Michel, Wissenschaftsjournalist und Historiker, nennen den Grabhügel Bornhöck in ihrem Buch «Die Himmelsscheibe von Nebra. Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas» (2018) ein «logistisches Meisterwerk», eine «Pyramide des Nordens».
Warum sie Himmelsscheibe und Grabhügel für eine ungeheure «Provokation» halten, begründen die Autoren so:
«Beide sind das Produkt menschlicher Anstrengungen, die wir uns bisher in diesem Teil Europas zu dieser Zeit nicht vorstellen konnten. (…) Der Bornhöck repräsentiert ja nicht nur eine gewaltige Arbeitsleistung. Der in ihm bestattete Fürst stellt die Krone einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft dar; als neu entdeckte Spitze lässt er die gesellschaftliche Pyramide der frühen Bronzezeit so steil in die Höhe aufragen, wie wir das nur aus den Hochkulturen kennen.»
Befestigte Städte wie an Euphrat und Tigris seien aufgrund der fruchtbaren Böden und eines wirksamen Schutzes der Aunjetitzer Außengrenzen nicht zwingend notwendig gewesen. Legitimation könnte der Herrscher auch durch exklusiv gehaltenes Wissen und ein kultisches Charisma gewonnen haben – ebenfalls eine nützliche Eigenschaft der Himmelsscheibe.
Auch wenn die Thesen des Teams um Harald Meller nicht unwidersprochen sind und mit zum Beispiel einer deutlich späteren Verortung, nämlich in der Eisenzeit, das ganze Gefüge aus Annahmen und plausiblen Erklärungen ins Wanken käme, bleibt die Himmelsscheibe von Nebra das herausragende vorgeschichtliche Objekt, als das sie von Anfang an begriffen wurde. «Der geschmiedete Himmel» birgt in jedem Detail den Schlüssel zum Verständnis einer lange untergegangenen Zeit und erinnert uns daran, dass man die Vergangenheit nur begreifen kann, wenn man sie mit ihren Augen zu sehen lernt.
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