Sacha Korn ist nicht nur passionierter Rockmusiker und spielt am Vorabend unseres Sommerfests bei einem exklusiven Konzert auf (hier anmelden), er griff auch schon für COMPACT zur Feder. Nachfolgend sein Beitrag über Abenteuer in der späten DDR und die Ambivalenz im Umgang mit sowjetischen Soldaten. Seine CDs können Sie hier erwerben – Shirts und Aufnäher gibt es hier.
_ von Sacha Korn
In der vierten Klasse – wir schreiben 1985, ich bin gerade zehn geworden – will ich endlich in die Russenkaserne hinein, und zwar dorthin, wo man als Deutscher nicht hindarf. Hinter dem Holzzaun, der parallel zur Hauptstraße verläuft, sehe ich Kinder spielen. Sie scheinen in meinem Alter zu sein. Ich klettere einfach rüber. Sie winken mich zu sich und sprechen Russisch. Leider verstehe ich kein Wort. Russisch lernt man in der DDR erst ab der fünften Klasse. So geht das einige Wochen in den Sommerferien.
Boxen, schießen, lernen
Sie nehmen mich bald mit auf das Gelände, zeigen mir alles. Hinter einem großen Gebäude befindet sich ein Fußballplatz. Dort trainieren gerade Soldaten. Es gibt Hantelbänke, eine Art Klettergerüst, an dem sie Klimmzüge machen, und eine Holzfigur, mit der offensichtlich Nahkampf unterrichtet wird. Und ich sehe einen Sandsack. Zu meinem Erstaunen boxen sie allerdings nicht dagegen.
Sie treten mit den Beinen und treffen den Sack in der Mitte. Es beeindruckt mich! So etwas habe ich zuvor noch nie gesehen. Das möchte ich auch können! Die Soldaten trainieren mit freien Oberkörpern und sind ziemlich schlank, fast dünn, allerdings sieht man auch Muskeln. Niemand von ihnen ist ansatzweise fett, im Gegensatz zu den Offizieren, die über den Kasernenhof stolzieren. Es wirkt sehr martialisch, und ich sehe mich selbst als erwachsenen Mann mit ihnen Sport treiben. Mir gefällt es hier.
Nach den Sommerferien wechsle ich mit der gesamten Klasse die Schule von Ruhlsdorf nach Teltow. Ich lerne neue Freunde kennen. Jetzt kommt endlich das ersehnte Fach Russisch in mein Leben. Die Älteren warnen mich davor und berichten davon, wie schwierig es sei. Ich bin aufgeregt, aber freue mich auch darauf.
Meine Eltern können das gar nicht verstehen. Mein Opa meint, dass er Sowjets im Krieg auch nicht leiden konnte, aber jetzt schon, denn:
«Das sind auch nur arme Schweine! Die werden behandelt wie Sklaven. Guck dir doch an, wie sie leben. Dass sie den Krieg gewonnen haben, sieht man nicht. Uns geht es viel besser, obwohl wir alles verloren haben. Lern nur Russisch. Man kann von Sprachen immer nur profitieren. Als ich in Gefangenschaft war, musste ich übersetzen und war deswegen wichtig. So ließ man mich am Leben. Ja, so war das, also lerne alles, was du kannst! Die Russen haben eine tiefe Seele.»
Ich spüre die Weisheit in seinen Worten. Aber auch ohne sie freue ich mich auf meine erste Fremdsprache. Ich passe gut auf in den ersten Stunden, und weil ich schon mit den Russenkindern spiele und mir ihre Worte und Klänge geläufig sind, greife ich gleich die ersten Einsen ab. Mein Freund Jens ist überhaupt nicht begeistert und sagt immer:
«Ich hasse das Russenpack! Sie haben unsere Frauen vergewaltigt und besetzen unser Land.»
Ich höre ihm zu und weiß, dass er natürlich recht hat. Ich kann aber nicht anders, als nur das zu beurteilen, was ich sehe, und ich will meine Erfahrungen machen. Die Neugier ist größer. Und was ich sehe, sind Andrey, Sergey und Wowa. Und diese Jungs sind mittlerweile meine Freunde geworden. Wir spielen mit meinen wenigen Matchbox-Autos oder, im Billardraum der Offiziere, mit den Dienstwaffen ihrer Väter – allerdings ohne Munition.

Manchmal bringen sie auch Handgranaten mit. Immerhin sind es echte Waffen, mit denen wir spielen. Nicht wie unsere DDR-Plastik-Billigwaffen, die überhaupt nicht echt aussehen. Manchmal, wenn ich meinen Nachbarn mitbringe, werden wir in Wehrmacht (oder SS) und Rote Armee eingeteilt. Sie wollen immer siegen, aber wir überlisten sie manchmal und gewinnen dann doch. Wir lachen dann, und sie nehmen es hin. Es spielt nicht so sehr die Rolle, wer gewinnt. Mit kindlicher Naivität söhnen sich hier zwei junge Generationen spielerisch aus und bauen eine echt deutsch-russische Freundschaft auf. Ich habe eine großartige Zeit mit ihnen.
Es wird Herbst, das Wetter ändert sich, und wir verbringen mehr Zeit drinnen. Meist spielen wir Billard im Haus der Offiziere, ein anderes Mal gehen wir ins Kino. Es laufen nur russische Filme. Selbstverständlich verstehe ich kein Wort, aber wir sitzen meist allein mit ein paar Offizieren und haben einfach schöne Stunden. Das nächste Kino in meiner Stadt befindet sich einige Kilometer entfernt, und die meisten Filme darf ich ohnehin in meinem Alter noch gar nicht sehen.

Gut schlägt Böse
An einem Dienstag im Oktober schlendere ich wieder über die Kaserne und halte Ausschau nach meinen Freunden. Ich kann sie aber nirgends finden und suche sie zuletzt im Kino. Als ich das Haus betrete, spricht mich der wachhabende Unteroffizier an. In schlechtem Russisch mit brutalem deutschen Akzent erwidere ich, dass ich ihn nicht verstehe und nur Andrey, Sergey und Wowa suche.
Er wird laut und schreit mich schließlich an. Ich schaue ihn nur verdutzt und ängstlich an. Dann packt er mich und schleift mich vor die Tür. Dort angekommen schreit er über den Hof. Ich verstehe nur die Hälfte. Blitzschnell fährt ein Lkw vor.
Im nächsten Augenblick wirft er mich auch schon auf die Ladefläche und sagt dem Fahrer: «Nach Potsdam zur Kommandantur!». Das verstehe ich wieder. Ich bekomme Angst und sage, dass ich doch nur meine Freunde suche. Ich rufe, schreie vom Lkw, sodass umliegende Soldaten mich hören. Sie drehen sich um und kommen herbei.
Schließlich erkenne ich den Vater von Andrey, der aus einem Gebäude herbeieilt. Er hört mich auf dem Lkw schreien und fragt offensichtlich, was los sei. Der Offizier erklärt ihm irgendwas, von dem ich nichts verstehe. Im nächsten Augenblick holt Andreys Vater aus und schlägt dem Soldaten ins Gesicht. Er ist außer sich vor Wut, er schlägt, schimpft und spuckt ihn an. Dann kommt er zu mir, holt mich vom Lkw und nimmt mich in den Arm.
Ich bin noch immer verstört und habe furchtbare Angst. In dem Moment denke ich an meine Großeltern und an die Geschichten, die sie mir erzählen. Der Vater meiner Oma wurde von den Russen mit einem Gewehr erschlagen, als er sich vor seine Frau und Tochter stellte, um sie vor der Vergewaltigung zu schützen. Das geschah in demselben Haus, in dem ich jetzt mit meinen Eltern wohne, in deren Schlafzimmer.
Mir fällt meine Oma ein, die uns beim Pilzesuchen im Wald sofort panisch anschreit, wenn die Rote Armee eine Übung in der Nähe abhält. «Marion, pack das Kind ein, die Russen sind im Wald, wir müssen sofort los!» Sie erzählt mir oft, dass sie nach dem 8. Mai 1945 eine Woche im Wald gelegen hat mit ihrer Mutter, ehe sie sich wieder nach Hause trauten. Und ich erinnere mich an den Opa von Jens, der auch von den Russen bei uns im Wald erschossen wurde.
Als ich an dem Abend nach Hause gehe und im Bett liege, finde ich keinen Schlaf. Es schießen hunderte Gedanken aus allen Richtungen durch meinen Kopf. Ich frage mich, wohin ich gehöre. Ich verstehe Jens, ich kenne die Geschichten meiner Großeltern, aber ich erlebe alles anders. Ich entscheide mich dafür, mich einfach auf die Dinge einzulassen, verurteilen möchte ich trotzdem niemanden.
Mit Katjuscha im Bett
Durch die anbrechende Nacht höre ich auf einmal Stimmen. Nein, es ist Gesang. Es ist ein schönes Lied, es ist russisch. Vorher fiel es mir nie auf, es ist das erste Mal, dass ich es bewusst wahrnehme, und es legt sich mit seiner Traurigkeit über meinen Schlummer wie eine warme Decke in Moll.
Die erste Strophe von Katjuscha kann ich immer noch singen. Ich gehe mit diesem Lied bis zur Wende jede Nacht ins Bett und werde in den Schlaf gesungen. Mein Opa erzählt mir, dass er die russische Seele eigentlich auch schon immer mochte. Er sagt, dass er es gut fände, dass ich mir meine eigene Meinung bilde von allem. «Es gibt solche Russen, und es gibt solche. Vergiss nie, es war Krieg! Jetzt ist alles anders. Damals haben sie uns aufeinandergehetzt. Ihr müsst Freundschaft schließen. Das ist gut. Eines kann ich dir sagen», flüstert er und beugt sich mit ernstem Blick zu mir runter.
«Die Russen standen uns ehrlich im Feld gegenüber. Sie waren nie feige. Es waren arme Schweine, teilweise mit Holzgewehren haben sie sie auf uns in die Schlacht geschickt. Aber der Engländer und der Ami haben Bomben auf unsere Städte geworfen. Sie waren zu feige für den Kampf! Die haben nur von oben das Feuer auf uns geschmissen und alles in Schutt und Asche gelegt. Sie haben nicht gegen Soldaten gekämpft, die haben Frauen und Kinder ermordet. Das sind die größten Verbrecher, die es gibt. Die Russen sind arme Hunde, denk an meine Worte, Sacha. Sie sind zumindest ehrlich…» Seine Worte klingen mir bis heute in den Ohren.
_ Sacha Korn (*1975) stammt aus Potsdam und studierte an der Los Angeles Music Academy. Zu seinen Lehrern zählten unter anderem Joe Porcaro von der Band Toto und Kiss-Produzent Kenny Kerner. Nach seinem Studium war er als Musiker und Produzent erfolgreich und arbeitete mit großen Labels wie Universal Music zusammen.
Reinhören, anziehen, dabei sein! Patriotische Rockmusik vom Feinsten: Für das Sommerfest am 9. August inklusive Sacha-Korn-Konzert am Vorabend können Sie sich hier anmelden. CDs von Sacha Korn können Sie hier erwerben – Shirts und Aufnäher gibt es hier.