Uniformen sind sexy: In der Gothic-Szene lebt eine Ästhetik fort, die auf die Vergangenheit verweist. Das ist nicht politisch gemeint, sondern künstlerischer Ausdruck einer besonderen Form von Romantik. Der folgende Kulturbeitrag erschien zuerst in COMPACT 6/2019 und ist eine gute Ergänzung zu unserer neuen Ausgabe 10/2020 mit dem provokanten Titelthema «Das Reich wird Pop: Neue deutsche Sehnsucht», die Sie HIER bestellen können.

    Der Raum ist in ein frostiges Stahlblau getaucht, ein alter Mann mit Zylinder spielt die Violine, ein jüngerer das Klavier, ein Soldat mit Maske das Akkordeon. An den Tischen sitzen Herren in schwarzen Uniformen, auf ihren Kragenspiegeln die Runen der SS. Nun schwenkt die Kamera zu einer jungen Frau mit kurz geschorenen Haaren und knabenhaftem Körper, totenblass, mit violett schimmernden Lippen. Schwarze Charleston-Handschuhe bedecken ihre Arme, auf dem Kopf trägt sie eine Schirmmütze mit Totenkopf, ansonsten nur eine dunkle Herrenhose mit breiten Hosenträgern, ihr Oberkörper ist frei. Eiskalt haucht sie einen Chanson von Friedrich Hollaender: «Lebendig liebe ich zu leben. / Ich kann nur sagen, ich liebe zu gefallen. / Wenn auch nicht immer, liebe ich zu lieben.»

    Femme fatale: Charlotte Rampling als Lucia in dem Skandalstreifen «Der Nachtportier». Foto: Solaris Distribution

    Die Blicke sind auf sie gerichtet. Sie tanzt durch den Raum, lässt ihre Hände über den schmalen Körper, die nackte Haut, die apfelgroßen Brüste gleiten. Lasziv schmiegt sie sich an einen der Männer, der einen langen, schwarzen Ledermantel über seiner Uniform trägt. Dann nimmt sie keck auf dem Schoß eines anderen Platz, steht wieder auf und setzt sich schließlich auf einen Stuhl, auf dem sie scheinbar in sich zusammensinkt…

    Bizarre Liebe in der Vorhölle

    Dies ist wohl die wohl bekannteste Szene des Films Der Nachtportier, mit dem die italienische Regisseurin Liliana Cavani 1974 für einen handfesten Skandal sorgte. Der in Rom und Wien gedrehte Streifen – laut dem Lexikon des internationalen Films ein «mit epigonalen Mitteln auf Kunst getrimmter Politporno» – erzählt die Geschichte der sadomasochistisch geprägten Liebesbeziehung zwischen dem ehemaligen SS-Offizier Theo (Dirk Bogarde) und der früheren KZ-Insassin Lucia (Charlotte Rampling), die sich nach dem Krieg in einem eleganten Wiener Hotel wiedertreffen, wo der einstige Lageraufseher als Nachtportier arbeitet. Die Tanzsequenz ist eine Rückblende aus der Vorhölle, vielleicht auch ein Traumbild. «In der unschuldigen Schönheit von Charlotte Rampling ist ein satanischer und perverser Riss zu erkennen, in dem das Licht einer zerstörerischen Disposition als Nietzsche-Hypothese brennt: Man weiß nicht mehr, ob das Laster die Reinheit verdeckt oder die Reinheit das Laster verschleiert», schreibt Ciriaco Tiso in seiner Cavani-Biografie.

    Lasziv schmiegt sie sich an einen Mann im schwarzen Mantel.

    Als der Film in die Kinos kam, wetterte die Chicago Sun-Times, er sei «so anstößig wie schmierig, ein verabscheuungswürdiger Versuch, uns durch die Ausschlachtung der Erinnerung an Verfolgung und Leiden angenehm zu erregen». In einer Rezension des britischen Channel 4 hieß es hingegen: «Cavani zeigt anschaulich den Horror der Lager in ein paar grausigen Sequenzen und ist gleichermaßen in der Lage, Schrecken in ruhigeren Szenen zu vermitteln. (…) Noch beunruhigender im Kontext des Films sind die geschickt eingefangenen Momente von Zärtlichkeit und friedvoller Liebe. (…) Er argumentiert, dass die Zerstörung der Konzentrationslager nicht das Ende des Wahnsinns und der Grausamkeit dieser Zeit bedeutete und ganz sicher nicht die Narben der Opfer geheilt hat. So gesehen ist der Nachtportier eine intensive Erinnerung an unangenehme, aber unvermeidliche Wahrheiten.»

    Die Zensur im Produktionsland Italien verbot den Streifen zunächst, doch nach Protesten aus der Filmindustrie, an denen sich auch Luchino Visconti beteiligte, der fünf Jahre zuvor mit Die Verdammten für einen ähnlichen Skandal gesorgt hatte, wurde Der Nachtportier schließlich in einem Gerichtsverfahren zum Kunstwerk erklärt und ohne Schnitte freigegeben. In der schwarzen Szene gilt er bis heute als Kultfilm. Das liegt vor allem an seiner Ikonografie, seiner Abgründigkeit sowie der Kombination von Uniformästhetik und Sex. Ein Bildzitat der Tanzszene mit Rampling findet sich auf dem Cover der EP Mädchen in Uniform  der österreichischen Industrial- und Aggrotech-Band Nachtmahr, die das künstlerische Spiel mit dem Totalitarismus in Texten und Artwork auf die Spitze treibt. Uniformierte Frauen sind auch integraler Bestandteil ihrer Bühnenshow.

    Bowie im Führer-Mercedes

    Der Flirt mit dem Faschismus hat in der Popkultur eine lange Tradition. Als die New Yorker Glamrocker von Kiss 1973 erstmals ihren Schriftzug mit doppelter Sigrune verwendeten, schäumten die US-Medien. Ungefähr zur gleichen Zeit zeigten sich Iggy Pop und seine Stooges mit Hakenkreuz, später auch Siouxsie and the Banshees. Punk-Legende Sid Vicious spazierte sogar mit einem entsprechenden Shirt durch London. In allen Fällen spielten politische Gründe keine Rolle – es ging um reine Provokation. Ob dies auch im Falle David Bowies so war, ist umstritten. 1976 schockte er die britische Öffentlichkeit, als er im offenen Mercedes-Coupé vorfuhr und den rechten Arm hob. Während seiner Berliner Jahre besichtigte der Musiker Hitlers früheren Bunker und sammelte Nazi-Devotionalien.

    David Bowie als Leutnant Paul von Przygodski in dem Film «Schöner Gigolo, armer Gigolo» (1978). Foto: Screenshot Youtube

    Nach einem Konzert in Stockholm irritierte er die versammelte Presse mit der Aussage: «Ich glaube, Großbritannien könnte von einem faschistischen Führer profitieren. Letztendlich ist Faschismus echter Nationalismus.» Noch in seinem 1983 veröffentlichten Lied «China Girl» sang Bowie über «Bilder von Swastikas in meinem Kopf». Riefenstahl-Ästhetik brachten Roxy Music 1980 aufs Plattencover: Das Bild auf dem Album Flesh and Blood zeigt zwei Speerwerferinnen, die dem Olympia-Film von Hitlers Lieblingsregisseurin entsprungen zu sein scheinen. Mit Originalaufnahmen aus dem 1936 in Berlin gedrehten Streifen im Video zu «Stripped» sorgten Rammstein Ende der 1990er Jahre für einen Eklat. Das Cover von Joy Divisions Debüt An Ideal for Living (1978) ziert ein HJ-Trommler. Schon der Name der britischen Postpunk-Pioniere ist verstörend, bezieht er sich doch auf ein angebliches Lagerbordell in Auschwitz, das Yehiel Feiner alias Ka-Tzetnik in seinem Roman House of Dolls (1955) beschreibt.

    Sid Vicious spazierte mit Hakenkreuz-Shirt durch London.

    Eine große Rolle spielte Reichs-Chic schon immer in der Metal-Szene. Die Hells Angels verwendeten das Eiserne Kreuz bereits in den 1950er Jahren, Motörhead-Frontmann Lemmy Kilmister, ein leidenschaftlicher Militariasammler, machte es unter Freunden der harten Musik populär. Nikki Sixx von Mötley Crüe zeigte sich im Booklet des gleichnamigen Albums von 1994 in einer stilisierten NS-Uniform, durch das Œuvre der Thrasher von Slayer zieht sich der Nationalsozialismus als Motiv wie ein roter Faden – besonders umstritten sind ihre Songs über KZ-Arzt Josef Mengele und Himmlers rechte Hand Reinhard Heydrich. Schwarze Uniformen feiern wiederum in der Gothic-Szene fröhliche Urständ. Diverse Bands greifen darauf aus ästhetischen Gründen zurück.

    Entideologisierte Ästhetik

    Heße Scheibe. Foto: Trisol Music Group GmbH

    In Vollendung praktizieren dies Laibach, die ihre Konsumkritik durch das Stilmittel der Hyperaffirmation transportieren. Die Slowenen haben ihre Wurzeln in der Industrial-Szene, die sich, so der Musikjournalist Martin Büsser, als Antithese zum popkulturellen Mainstream versteht: «Am drastischsten und musikalisch auch extremsten widersetzte sich die sogenannte ”Industrial Culture” dem Pop als versöhnlicher Feierabendkultur von Party, Spaß und Tanz. Deren bekannteste Vertreter Throbbing Gristle benutzten den Verbrennungsofen von Auschwitz als Label-Logo, verstörten live durch ein Gemisch aus sägendem Lärm, Militarismus und offensiv zur Schau gestellter Sexualität. Ziel war es, das kollektiv Verdrängte der Gesellschaft aufzudecken.»

    «Do you want total war?» Boyd Rice

    Einen ähnlichen Ansatz verfolgte auch der US-Industrial-Musiker Boyd Rice mit seinem Projekt NON. Sein Auftritt in Osaka 1989 gilt noch heute als legendär: Eingeleitet von Glockenklang, Wagner-Musik und Zitaten aus Martin Scorseses Taxi Driver betritt Rice in Uniform und mit SS-Mütze die mit schwarzen Wolfsangelfahnen geschmückte Bühne. Seine ebenfalls uniformierten Mitstreiter Douglas Pearce (Death in June) und Michael Moynihan (Blood Axis) trommeln einen lauten und monotonen Marschrhythmus, während der bekennende Misanthrop in Goebbels-Manier «Do you want total war?» – «Wollt Ihr den totalen Krieg?» – ins Publikum brüllt.

    Die Faszination des Nationalsozialismus liegt laut dem israelischen Historiker Saul Friedländer «auch in der Kraft seiner Emotion, in den von ihm geweckten Bildern und Phantasmen». Damit stützt er die These Walter Benjamins, nach der der Faschismus auf eine «Ästhetisierung der Politik» hinauslaufe. Uniform-Erotik und Reichs-Chic sind der entideologisierte Nachhall dieser Ästhetik in der schwarzen Szene.

    Bei den Querdenker-Demos in Berlin tauchten natürlich weder Nazi-Symbole noch schwarze Uniformen auf. Dafür wurden oft unbekümmert schwarz-weiß-rote Fahnen – die Flaggen des Kaiserreiches – geschwenkt. Doch auch in diesem Fall bedeutet das nicht etwa Sehnsucht nach der Vergangenheit, sondern Hoffnung auf eine Zukunft, in der die Deutschen freier, souveräner, demokratischer und selbstbewusster als heute leben können. 


    Lesen Sie dazu in COMPACT 10/2020 mit dem Titelthema «Das Reich wird Pop: Neue deutsche Sehnsucht» folgende Beiträge:

    *Das Reich wird Pop: Die Querdenker-Bewegung stellt verstärkt die Frage nach der Souveränität Deutschlands und fordert einen Friedensvertrag – Themen, die bisher vor allem bei Randgruppen und rechtsaußen versauerten. Doch nun tanzen die Regenbogenkinder mit den Schwarz-Weiß-Roten gemeinsam um den Freiheitsbaum – und die Party hat erst angefangen. Jürgen Elsässers Leitartikel zur neuen deutschen Sehnsucht.

    *Kein Sturm auf den Reichstag: Am 29. August erklomm ein versprengtes Häuflein die Treppen des Parlaments. Was zu einem demokratiegefährdenden Orkan aufgebauscht wurde, war in Wirklichkeit ein laues Lüftchen. Manfred Kleine-Hartlage zum Putsch der Medien.

    *Reich. Pop. Flaggen: Die neue Reichspop-Bewegung ist ebenso vielfältig wie ihre Fahnen. Wir erläutern deren historische Hintergründe. Eine kleine Fahnenkunde.

    *Gute Fahne unter falscher Flagge: V-Leute und Schauspieler in Berlin: Während zehntausende Querdenker friedlich demonstrieren, stürzen sich die Medien dankbar auf die Ereignisse am Reichstag. War eine Eskalation staatlich gewollt? Ein Enthüllungs-Report von Marcel Dettmer.

    *Ein Traum, der niemals endet: Die Reichsidee blieb auch nach 1945 in Deutschland virulent. Künstler, Politiker und Historiker wollten mit ihr erstarrte Fronten aufbrechen und Alternativen zur Teilung Europas entwickeln. Ein politisch-kultureller Essay von Sven Reuth.

    *Arbeitermacht mit Kaiserfahnen: Die Gründer der DDR hatten sich entschieden: Die Flagge der Republik wird Schwarz-Weiß-Rot. Erst wenige Monate vor der Staatsgründung schwenkten sie um. Eine historische Rückschau von Martin Müller-Mertens.

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