Die Herabwürdigung der Deutschen als verachtenswertes Volk wurde immer wieder mit ihrem „Sonderweg“ in der Geschichte begründet. Ausgerechnet ein marxistischer Philosoph warf sich gegen dieses Vorurteil in die Bresche – mit ungewöhnlichen Argumenten. Ein Auszug der aktuellen COMPACT-Geschichte Nr. 13 Geschichtslügen gegen Deutschland, über die Sie hier mehr erfahren können.

    _ von Domenico Losurdo

    Die Theorie vom deutschen Sonderweg stellt die deutsche Geschichte dem Rest der Welt entgegen; doch ähnliche Theorien haben jeweils die Geschichte des einen oder anderen Landes dem Rest der Welt entgegengestellt. Weit entfernt, aus der Notwendigkeit heraus entstanden zu sein, die eigentümliche Herausbildung Deutschlands zu verstehen, ist die Kategorie „Sonderweg“ ein Topos, ein Gemeinplatz, zu dem man immer dann seine Zuflucht nimmt, wenn man es mit einem neuen oder ungewöhnlichen historischen Phänomen zu tun hat. Bei genauerer Untersuchung der Geschichte ergibt sich, dass es nichts Wiederkehrenderes gibt als den „Sonderweg“!

    Deutschlands revolutionäre Tradition

    Außerdem handelt es sich um eine Kategorie, die die geistige Faulheit fördert. Geht es darum, das lange Andauern der Autokratie in Russland zu erklären? Da haben wir den russischen Sonderweg! Nimmt man sich vor, die Gründe für den Sieg des Bonapartismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich aufzuzeigen? Dann gibt es nichts Einfacheres, als auf den französischen Sonderweg zu verweisen!

    Mit Plakaten und Filmen, die Bilder aus den KZs zeigen, versuchten die Alliierten, allen Deutschen die Verantwortung an den Verbrechen des Dritten Reiches zuzuschieben. Foto: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

    Die Ergebnisse dieser Vorgehensweise sind sogar belustigend: Die nationalen Stereotype, die den Grund für den Sonderweg eines bestimmten Landes bilden, präsentieren sich in praktisch gleicher Form, wenn es sich darum handelt, den Sonderweg eines anderen Volkes zu erklären. In einem Klassiker des politischen Denkens liest man von einer „Nation, die im Gleichschritt marschiert und ganz in Reih und Glied steht“ und deren Mitglieder „Angst vor der Isolierung“ haben und den „Wunsch“ hegen, „in der Masse zu bleiben“. Seit jeher dazu geneigt, sich dem Despotismus anzupassen, ist ihnen die Freiheit die am wenigsten wichtige Qualität, und deshalb sind sie in gefährlichen Momenten immer dazu bereit, sie mit Vernunft aufzugeben“.

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    Welche Nation ist es aber, die innerlich unfähig ist, die Selbständigkeit des Individuums zu begreifen und zu respektieren, immer dazu bereit, sich vor den Machthabern und auch vor der tyrannischsten Obrigkeit zu bücken? Wir würden dazu neigen, an Deutschland zu denken; doch der hier zitierte Autor ist Alexis de Tocqueville, der im Jahre 1856 auf diese Weise den ein paar Jahre zuvor in Frankreich installierten Bonapartismus beschreibt.

    Nun gut, gibt es heute noch jemanden, der auf den unverbesserlichen Herdengeist des französischen Volkes und auf seine ebenso unverbesserliche Unempfindlichkeit für den Wert der Freiheit verweist? Auf Frankreich schien damals indes ein besonderes und verhängnisvolles Schicksal zu lasten: Das klassische Land des monarchischen Absolutismus hatte nacheinander den jakobinischen Terror, die Militärdiktatur Napoleons I. und schließlich das eigentliche bonapartistische Regime Napoleons III. erlebt. Zumindest auf den ersten Blick hatte die Theorie vom französischen Sonderweg ihre Plausibilität.

    Im deutschen Fall fehlt diese Plausibilität. Und dennoch erweist sich die Mythologie als zählebig, die die Geschichte des deutschen Volkes so rekonstruiert, als wäre sie vollkommen von einer negativen Teleologie beherrscht, die unwiderstehlich auf die Barbarei des Dritten Reichs und auf die Gräuel der „Endlösung“ hinausliefe.

    Ewig büßen für den Holocaust? Das Tor von Auschwitz nach der Befreiung 1945. Foto: Bundesarchiv, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha, CC-BY-SA 3.0, Wikimedia Commons

    Selbst hochgebildete Intellektuelle erinnern sich anscheinend nicht an die vielen Jahrzehnte, in denen Deutschland gleichbedeutend für Revolution stand. Wenn Marquis de Condorcet im Jahre 1792 an die Deutschen appelliert, den bevorstehenden konterrevolutionären Kreuzzug gegen das neue Frankreich zu boykottieren, geht er, dabei vor allem die Reformation ins Gedächtnis rufend, so weit zu erklären:

    Wir verdanken euch unsere Freiheit.

    Obwohl aus ihr politisches Kalkül spricht, klingt diese Argumentation des französischen Philosophen klar und überzeugend: Im Jahre 1789 kommt der Zyklus von Kämpfen gegen den Feudalismus zum Abschluss, der auf deutschem Boden mit Luther begonnen hatte. Ebenso wie die Französische Revolution ist in Deutschland die Reformation eine große Massenbewegung gewesen, während der Bruch mit Rom in England bloß das Ergebnis einer Initiative von oben darstellte.

    England ist auch das Land, das 1792 die Koalition gegen das revolutionäre Frankreich inspiriert und anführt. Condorcets Leitgedanke des französisch deutschen Bündnisses, das heißt des Bündnisses zwischen den beiden Völkern, die in impliziter oder expliziter Polemik gegen das als Bollwerk der Reaktion betrachtete England die Sache der Moderne, des Fortschritts und der Revolution repräsentieren, durchdringt zutiefst die große philosophische Epoche, die von Kant zu Fichte, von Hegel zu Marx reicht.

    Wehe den Besiegten!

    Doch mit der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs bekommt die These vom zuinnerst barbarischen und kriegshetzerischen Charakter des deutschen Volkes nicht nur neuen Aufschwung, sondern nimmt zudem eine noch beunruhigendere Färbung an. In einer Rede vom April 1941 erklärt Winston Churchill…

    Der bekennende Marxist Domenico Losurdo, Jahrgang 1941, war bis zu seinem Tod 2018 einer der wichtigsten zeitgenössischen Philosophen Italiens. Seine vollständige Verteidigungsrede für Deutschland lesen Sie in COMPACT-Geschichte Nr. 13 Geschichtslügen gegen Deutschland. In dieser Sonderausgabe gehen wir falschen Mythen auf den Grund und korrigieren das einseitige Bild: von den angeblich rückständigen Germanen über das säbelrasselnde Preußen, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg bis hin zu Reemstmas Wehrmachtsausstellung. Hier bestellen.

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