Mit der Rente steigt der Mut. Zumindest bei manchem. (Vielleicht soll der Ruhestand deshalb immer weiter nach hinten verschoben werden?) Dieses Phänomen ist auch bei Ex-Bundespräsidenten Joachim Gauck zu erleben. Gauck, der während der Amtszeit in Bezug auf die EU erklärte, nicht die Eliten, sondern die Bevölkerung sei das Problem, hat jüngst zur dialogischen Öffnung mit den „Rechten“ gefordert.
Gegenüber Spiegel stellte Gauck fest, dass die vielbeschworene Toleranz des Mainstreams auch impliziere, „nicht jeden, der schwer konservativ ist, für eine Gefahr für die Demokratie zu halten und aus dem demokratischen Spiel am liebsten hinauszudrängen“. Nur beim Extremismus sei keine Toleranz mehr möglich: „Rechtsextrem oder Linksextrem – das sind die Positionen, wo der Staatsanwalt kommt, wo wir mit aller Härte des Gesetze auch dagegen vorgehen müssen.“ Zwischen beidem aber müsse „jede Diskussion und Auseinandersetzung möglich sein“.
Diese 180 Grad-Wendung ließ Gauck in den darauffolgenden Tagen spüren, was es heißt, heutzutage KEIN Konformist zu sein. Jedenfalls ist seine Feststellung über die Reaktionen auf seinen „Toleranz in Richtung rechts“-Aufruf für einen Ex-Systemling geradezu revolutionär.
Gauck stellte nämlich fest, dass viele Konformisten gar kein Interesse an einem Dialog haben: „Die teilweise heftigen Reaktionen auf diese Forderung zeigen mir, dass es einigen gar nicht um Debatten geht, sondern einfach um die Sicherung alter Denkweisen und Milieusicherheiten“. Und, so vertraute er der Nachrichtenseite t-online an, er plädiere „für eine weite Bandbreite des politischen Diskurses“.
Dies gelte auch für den Umgang mit der AfD: „Solange diese Partei nicht verboten ist, sollten wir ihren Mitgliedern und Anhängern im Sinne der kämpferischen Toleranz vor allem mit Argumenten begegnen.“ Er halte es zwar für nicht hinnehmbar, „dass in dieser Partei verkappte Nazis aktiv sind und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit geduldet wird.“ Allerdings schließe er nicht aus, „dass sich die Partei zwar betont national, aber doch demokratisch entwickelt – auch wenn sie für mich immer noch verzopft und retro wäre. So oder so, ich halte es augenblicklich für problematisch, dass man der AfD den Bundestagsvizepräsidenten versagt.“
Weshalb es noch Hoffnung für Europa gibt:
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