Marco Wanderwitz ist nicht nur Ostbeauftragter der Bundesregierung, sondern gleichzeitig Spitzenkandidat der sächsischen CDU für die Bundestagswahl. Ein Ossi-Versteher also? Lesen Sie von unserem Autor auch seinen großen Essay „Herrschaft der Angst“ in COMPACT-Aktuell Corona-Diktatur – Wie unsere Freiheit stirbt. Die Sonderausgabe können Sie hier bestellen.

    Jener Herr Wanderwitz sieht bei seinen Landsleuten im Osten eine stärkere Neigung zur Wahl rechtsradikaler Parteien als im Westen:

    Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.

    So hatte es der Mann mit der unfreiwillig komisch anmutenden Bezeichnung Ostbeauftragter im FAZ-Podcast gesagt. Ein Teil der Ossis habe „gefestigte nichtdemokratische Ansichten“.

    Marco Wanderwitz (CDU). | Foto: Karine.vanina, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons

    Also mal probeweise mitten hinein in die Alterskohorte des Jahrgangs 1964. Er ist im Westen wie Osten Deutschlands der stärkste. Quantitativ, versteht sich. 1.357.304 Lebendgeborene. 2002 waren es nur halb so viel.

    Gewinner und Verlierer

    Wir saßen in vollen Klassen und legten Anfang der Achtziger das Abitur ab. Danach standen die Jungen von uns eineinhalb oder drei Jahren in den Streitkräften. Leonid Breschnew starb kurz nach unserer Einberufung am 10. November 1982. Trauerappelle auf Exerzierplätzen im Nieselregen. Was darauf folgte, war ein weltgeschichtlicher Abgesang, den wir eher intuitiv als expressionistische Grundstimmung, als ein sozialistisches Weltende wahrnahmen. Es hatte sich angekündigt, aber das erkannten wir erst hinterher.

    1984 und 1985 aus dem Armeedienst entlassen, reichte es gerade noch für ein Studium, in das man anders hinein- als herauskam, denn es blieben gerade so fünf Jahre, bis der Spuk oder – je nachdem – die Utopie vorbei war.

    Wie wir auch immer zur DDR gestanden hatten: Wir erlebten den Untergang des Landes, in das wir hineingeboren waren, zwangsläufig nicht nur als Chance, sondern ebenso als Verunsicherung, viele sogar als Niederlage. Wir hatten, so war es uns erklärt worden, in einer Systemauseinandersetzung gestanden, deren äußeres Erscheinungsbild der Kalten Krieg war. Wir waren die Verlierer. Und tatsächlich, die anderen, aus dem Westen, einem anderen Deutschland, sahen wie die Gewinner aus.

    In der Mensa der Universität Leipzig sprach während turbulenter Tage 1990 einer aus, was ich mir merkte:

    Jetzt sind wir so was wie die Südstaatler 1865.

    Historisch keine stimmige Parallele, aber alltagskulturell in eigenwilliger Übertragung nicht ohne Charme. Die Melancholie des Grand Old South und die Ostalgie des Beitrittsgebietes.

    Nicht cool genug

    Ja, die Demokratie: Plötzlich alles sagen, vertreten, publizieren können – mit der Grunderfahrung, dass es dann nicht so skandalträchtig interessiert wie im vormundschaftlichen Staat, der noch auf jeden Kritiker mit einem Allergieschub reagierte. Funktioniert heute nur gegenüber der AfD. Das müsste der Ossi-Beauftragte doch verstehen.

    Ja, die Marktwirtschaft: Alles kaufte ein, alles redete von Geld, erstmalig; und wer gerade Bürger geworden war, stellte fest, mehr noch als dies war er jetzt Konsument mit Verbraucherschutz. Eben noch der Citoyen bei den Montagsdemonstrationen, jetzt schon Bourgeois als Profi-Shopper im Discounter.

    Ja, die Freiheit: Eher wenige engagierten sich politisch; die meisten waren erlöst, nicht mehr alles mitmachen zu müssen. Nach einer der letzten Allensbach-Umfragen präferieren zudem 53 Prozent der Bürger die Sicherheit und nur 34 Prozent die Freiheit.

    Symbol westlicher Freiheit: Warum nur trinkt man im Osten lieber Vita-Cola?

    Während wir etwas verzagt mit Existenzrettung beschäftigt waren, tauchten die Lokatoren aus dem Westen auf und machten gemeinsam mit der Treuhand alles klar. Jetzt höre ich: Weshalb haben wir uns nicht früher selbständig gemacht, Häuser gekauft, Firmen gegründet? Einfach nicht cool genug gewesen…

    Die mathematisch-naturwissenschaftlich Talentierten von uns, viele Frauen darunter, stiegen durchaus als Ingenieure in Konzerne ein und kamen als kompetente Praktiker zurecht. Vergleichsweise viele wurden Lehrer und sahen in der neuen, der demokratischen Schule eine Chance, bis sie mitbekamen, dass die eher etwas deklarierte als wirklich leistete.

    Blank und steril

    In den Neunzigern waren wir junge Dreißiger, und es schien, als trete das Politische noch weiter hinter das Wirtschaftliche zurück. Erst New Economy, temporeiche Jahre, digitale Revolution, immaterielle Waren, die Kurve des DAX auf den Titelseiten gleich neben dem Wetterbericht, weil plötzlich alle Welt in Aktien machte. Selbst Pleitiers. Ergebnis: Dotcom-Blase und Penny-Stocks. Dann Agenda 2010: „Wir werden die Leistungen des Staates kürzen.“ Hartz IV. Man bleibe also, dachten wir Vierziger, besser bei seinen Leisten, arbeite beflissen weiter und sehe zu, dass man durchkomme.

    Fast hatten wir Abiturienten von damals den Eindruck, wir wüssten nun endlich ungefähr, wie es läuft. Dann aber die Lektionen der Nuller-, der Zehner- und der frühen Zwanzigerjahre mit Finanzkrise, Migrationskrise, Klimakrise, Corona-Krise. Einerseits ökonomische und soziale Turbulenzen, andererseits politisch eine beeindruckende Windstille, seit 2005 personifiziert, ja symbolisiert durch eine von uns, Frau Dr. Merkel.

    Trotz Digitalisierung, Vernetzung und neoliberal begleiteter technischer Forcierung aller Takte und Tempi ist es verdammt langweilig geworden. Wir mögen uns täuschen, aber wir reden wieder von Stagnation und Resignation, wie vor Breschnews Tod, freilich ohne das eine System mit dem anderen vergleichen zu können.

    Mag sein, wir erleben gar einen ideellen Stillstand, der nicht mehr endet, ganz so, wie das demografische Absterben unumkehrbar scheint. Und die Demokratie soll zwar das beste Regierungssystem sein, was es gibt, aber interessanterweise bildet sie in sich, in den angeblich gewaltengeteilten Bereichen gleichfalls eine Art Hof- oder Funktionärsstaat aus, so dass die Wahlen am meisten jene interessieren, die dabei ihre Diäten verlieren können. Diäten – was für ein Euphemismus.

    Der Reichstag in Berlin: Immer noch eine schöne Fassade, aber drinnen sieht’s schon übler aus…

    Mit den überalternden Menschen geht die Kultur. Nur bricht nichts sichtlich zusammen, so wie in Leipzig, Greifswald und am Prenzlauer Berg in den Achtzigern. Im Gegenteil: Die Fassaden werden immer blanker und steriler. Ja, die Fassaden! Mancher Niedergang kommt ohne Ruinen aus. So steril sie aussehen, so tot sind manche Orte. Die Technik perfektioniert, das Leben darin sediert und kraftlos. Die sogenannte Deutschland AG boomt, heißt es. Eine Wachstumsmaschine, der Exportweltmeister. Was aber wächst außer der Wirtschaft, würde der lesende Arbeiter Bertolt Brechts fragen.

    Beständig wird die Freiheit beschworen. Sicher, die Freiheit, denken wir: Schwieriger Begriff, aber flott zu gebrauchen. Doch wer fängt noch Entscheidendes damit an? Politik versuchen wir unseren Kindern zu erklären, aber meist interessiert sie das nicht. Die Nation? Ein Wort wie in Frakturbuchstaben. Die DDR in ihrer tragisch kecken Weise wollte unbedingt eine Nation sein. Für sich. Dass die Bundesrepublik selbst einen solchen Anspruch aufgibt, gilt hingegen als modern. Losungswort: Europa!

    Wir spürten, wir sollten noch ein Stück weiter erzogen werden. Kurz nach der Wende nahmen wir das hin, denn wir kannten uns nicht aus. Gewonnen hatten die anderen; die mussten wissen, wie es gesellschaftlich laufen muss, und wir hörten artig zu.

    Linke Anthropologie

    Aber es wurde immer didaktischer: Die große Gerechtigkeit müsse nun Einzug halten. Was in Tausenden Jahren Menschheitsgeschichte nicht gelang, das sollte jetzt möglich sein, weil wir alle endlich die Reife dazu mitbrachten. Große Läuterungen: Gendersprache als äußerer Ausweis totaler Gleichberechtigung, Befreiung von der Genetik des historisch Bösen, indem Kolonialismus, Rassismus, Imperialismus, Militarismus, Sexismus uns endgültig ausgetrieben wurden.

    Und das fast nach marxistischer Devise: Ändert man nur die Verhältnisse zum Bessern, dann wird sich unweigerlich der Mensch zum Guten wandeln, weil er an sich doch gut ist. Linke Anthropologie: Rousseauismus in neuer, jetzt verwirklichter Gestalt.

    Gender-Toiletten: Eine Ausgeburt neulinker Ideologie. Foto: Ted Eytan, CC BY-SA 2.0, Flickr.com

    Sind nur die Schulen gerecht und inklusiv, so wird es zwangsläufig die Gesellschaft. Ist das „N-Wort“ aus allen Kinderbüchern getilgt, kann sich niemand mehr gegenüber einer sogenannten Person ouf Color falsch benehmen. Benennt man die Straßen und Plätze um, so haben die Passanten und Bewohner darüber die richtige Orientierung. Sühnt man nachhaltig durch Rückgabe von Kunstwerken und ethnologischen Ausstellungsstücken, darf man sich in der Weltgemeinschaft besser fühlen, weil man sich dann erst als zur Toleranz, zum Humanismus und überhaupt zur Weltoffenheit befähigt erweist.

    So, wie man die Leute dazu bringt, in den Kneipen nicht mehr zu rauchen und beim Radfahren bitte einen Helm zu tragen, so kann man ihnen alles andere vermitteln. Selbstverständlich zu ihrem Besten, ganz so, wie es der Sozialismus, aus dem wir kamen, einst wollte. Nur anders. Jetzt wirklich und absolut endgültig zum ultimativ Besten, auf dass dann auf einem Plateau der Weltvernunft verharrte werde. Paradiesische Zustände.

    Die einzige Opposition

    Welche Gefahren jedoch überall lauern und welche Irrwege immer noch eingeschlagen werden, wenn man den politischen Deutungsbehörden und dem linken Menschenbild nicht folgt, das zeigen all die Rechten, die es eigentlich überhaupt nicht mehr geben dürfte, die es aber – wie beschämend für uns! – immer noch gibt: richtige Nazis, die man als pathologisch anzusehen hat, aber ebenso entzündliche Vorformen, die sich zum Urbösen auswachsen können, wenn man ihnen nicht mit der Zivilcourage der Anständigen entgegentritt. Pegida eben, sehr ossig, die AfD, im Osten besonders agil und vital, Verschwörungstheoretiker, Populisten und Reichsbürger, eigentlich auch Fleischesser und Dieselfahrer.

    Corona hat gezeigt, wie man eine Gesellschaft quasisozialistisch führt: vormundschaftlich, obrigkeitsstaatlich, exekutiv. Und wie unkompliziert Bürger- und Freiheitsrechte über Nacht abzuschalten sind. Damit stillgehalten wird, gibt es satte finanzielle Mittel aus der öffentlichen Hand.

    Wir Ossis hätten gar nicht gedacht, wie staatsgläubig sich die Wessis und dort vor allem die Linken verhalten. Und beflissen darauf warten, bis ihnen – wie zur Belohnung für ihre Artigkeit – wieder gestattet wird, die durchbefohlene Maske abzunehmen und einem Leben nachzugehen, das man noch vor zwei Jahren für allzu verständlich gehalten hatte.

    Gerade wir im Osten erkennen, dass es nurmehr eine Opposition gibt. Links ist sie gerade nicht, denn von links kommen nicht nur die neuen, die ökolinken Spießer, nein, es gehen von dort keine kritischen Impulse mehr aus. Abgesehen vielleicht von Sarah Wagenknecht und Bernd Stegemann. Nur finden deren Thesen kaum Widerhall.

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