Viele ehemalige DDR-Bürger fühlen sich 30 Jahre nach der friedlichen Revolution an die Spätphase des selbst ernannten Arbeiter- und Bauernstaats erinnert: Aus Berlin kommen nur noch Durchhalteparolen, und das Geld wird für linke Utopien verprasst. Nun will man den Menschen auch noch einreden, nicht sie, sondern einige Intellektuelle hätten die Revolution gemacht. Es folgen Auszüge aus einem Artikel, den Sie ungekürzt in der aktuellen COMPACT 9/2019 lesen können.

    «Der Bahnhof war ein gurgelnd schlingendes Räderwerk, eine erleuchtete Kehle, die Schritte schluckte, Wasser, Qualm und Feuer ausspuckte. Dorthin? Sollte er gehen? Straßenbahnen lagen hilflos wie Kerne in einem schwellenden Fruchtfleisch aus Menschen. Da wurde ein Auto umgestürzt und angezündet, Molotow-Cocktails sprudelten durch die Luft wie brennende Bienenkörbe, die aufplatzten und Myriaden tödlich gereizter Feuerstacheln ausschleuderten.» Diese Schilderung findet sich in Uwe Tellkamps Jahrhundertroman „Der Turm“; sie beschreibt die Schlacht um den Dresdner Hauptbahnhof, die am 3. und 4. Oktober 1989 genau ein Jahr vor der Wiedervereinigung tobte. Wer denkt, dass es sich um ein fiktives Geschehen handelt, der irrt. Es gab diese Straßenschlacht wirklich, sie spielt in der geglätteten Erinnerungskultur zum Umsturz in der DDR bloß keine große Rolle mehr, denn aus dieser wird das Volk mehr und mehr herausretuschiert, während vor allem die kleine Gruppe der Bürgerrechtler in den Mittelpunkt gerückt wird.

    Ein Thriller, kein Selbstläufer!

    Die Rede von der «Wende», die schon kurz nach den Massendemonstrationen zum bestimmenden Narrativ der Medien und der Politik wurde und die auf den letzten SED-Generalsekretär Egon Krenz zurückgeht, verdeckt den wahren Charakter der damaligen Ereignisse. Tatsächlich fand in Mitteldeutschland damals eine Revolution statt, bei der sich das Volk in Hunderten von Städten und Gemeinden zwischen Erzgebirge und Rügen seine Freiheit mit friedlichen Mitteln erkämpfte.

    Der westdeutsche Kanzler Helmut Kohl wird im Dezember 1989 in Dresden umjubelt. Foto: picture-alliance / dpa

    Die Fernsehzuschauer im Westen konnten damals mit atemloser Spannung einen Politkrimi mitverfolgen, wie ihn Deutschland vorher und nachher nie wieder erlebte. In Leipzig machte vor der ersten großen Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 das Gerücht die Runde, die Blutkonserven in den Krankenhäusern seien aufgestockt worden, weil man im Verlauf des Abends mit zahlreichen Verletzten rechnete. In Dresden konnte der Hauptbahnhof vier Nächte zuvor nur noch mit Hilfe von Einheiten der Nationalen Volksarmee abgeriegelt werden, da verzweifelte Ausreisewillige versucht hatten, das Gebäude zu stürmen, um noch auf die aus Prag kommenden Flüchtlingszüge in Richtung Hof aufzuspringen. Zu dieser Zeit schwang der größte Teil der Ordnungskräfte noch die Knüppel, Tausende gerieten in Haft und wurden dort oft brutal malträtiert. Sie waren es, die am Ende den Weg zur Deutschen Einheit bahnten.

    «Molotow-Cocktails sprudelten durch die Luft wie brennende Bienenkörbe…» Uwe Tellkamp

    Der glückliche Ausgang des Geschehens wurde am Ende aber auch deshalb möglich, weil es auf der Seite der Staatsmacht nicht nur Böse, sondern überraschend viele Gute gab, die nicht bereit waren, auf ihr eigenes Volk zu schießen.  (…)

    Ein Aufstand des Volkes

    Als Erich Honecker nach der Behandlung seiner Krebskrankheit Anfang Oktober wieder in seine Führungsfunktion zurückgekehrt war, setzte er ganz auf Repression. Die DDR sollte fast wie ein mitteleuropäisches Nordkorea durch die rigorose Abschottung von allen benachbarten Ostblockländern stabilisiert werden. Am 3. Oktober wurden die Grenze zur Tschechoslowakei abgeriegelt und Hunderte von Ausreisewilligen aus dem gesamten Gebiet der DDR, die sich in die bundesdeutsche Botschaft nach Prag flüchten wollten, aus den Zügen gezerrt, die sich bereits in der Nähe des Grenzübergangs Bad Schandau in der Sächsischen Schweiz befanden.   (…)

    Genscher am 30. September 1989 auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag. Foto: picture alliance / Reinhard Kemmether

    Schon vom 3. auf den 4. Oktober gab es Versuche, im Bahnhof haltende Züge zu erstürmen, eine Person geriet dabei auf die Gleise und verlor ein Bein. Die Nacht darauf brachte fast rumänische Verhältnisse – in der stalinistischen Diktatur des Nicolae Ceausescu wurde der Kampf des Volkes gegen die Staatsmacht gut zwei Monate später auf der Straße ausgetragen. Später stellte eine Untersuchungskommission fest, dass einige der aggressivsten Demonstranten zivile Mitarbeiter des MfS waren. Es kam zu heftigen Straßenschlachten in und um den Hauptbahnhof, wehrpflichtige Bereitschaftspolizisten legten – obwohl ihnen hohe Haftstrafen drohten und sie sofort abgeführt wurden – die Waffen nieder, ein Funkstreifenwagen der Volkspolizei wurde umgekippt und in Brand gesteckt, und als der Morgen dämmerte, waren Teile des Gebäudes ein Trümmerfeld.  (…)

    Diese These – das Volk als Motor der friedlichen Revolution, nicht die Intellektuellen – wird auch durch die erste Großdemonstration in der DDR seit dem 17. Juni 1953 belegt, die am 7. Oktober 1989 mit 20.000 Teilnehmern im vogtländischen Plauen in Westsachsen stattfand. Sie war – wie es der Historiker Wolfgang Schuller in seinem Buch „Die deutsche Revolution 1989“ nannte – die «außergewöhnlichste, weil aus dem Nichts kommende Massenkundgebung» der damaligen Zeit. Im Oktober 1989 gab es laut späteren Erhebungen 330 Demonstrationen und Kundgebungen in 171 Städten und Gemeinden der DDR. Das Territorium des heutigen Bundeslandes Sachsen war dabei ganz klar sowohl die Speerspitze als auch das Kernland der Revolution.

    Hier fand schon am Abend des 8. Oktober die erste nachweisbare Demonstration vor einem MfS-Gebäude statt – nämlich der Stasi-Kreisdienststelle von Bischofswerda, einer Kleinstadt in der Westlausitz in der Nähe von Dresden. Hier lag mit dem Bezirk Karl-Marx-Stadt (dem heutigen Chemnitz) auch die – gemessen an der Zahl der Kundgebungen sowie der Orte, in denen demonstriert wurde – mit Abstand aktivste Protesthochburg des Landes. Hier wurde schließlich so vehement wie nirgendwo sonst der Ruf nach der Wiederherstellung der 1952 von der DDR abgeschafften Länder sowie nach der nationalen Einheit Deutschlands laut. Die Sachsen waren es, die 1989/90 die DDR versenkten und maßgeblich den Weg zur Wiedervereinigung bahnten.

    Zur Rolle der Bürgerrechtler

    Die Rolle der Oppositionsgruppen in diesem Prozess wird oft überschätzt. In den 1980er Jahren hatten zwar die Aktivitäten der DDR-Bürgerrechtsbewegung stetig zugenommen. In ihrem Kampf für Demokratie und Grundrechte brachten die Aktivisten große Opfer und wurden häufig ausgebürgert oder inhaftiert. Ihrem Einsatz war es auch zu verdanken, dass es im Herbst 1989 Kristallisationspunkte wie die Leipziger Nikolaikirche gab, die Oppositionelle anlaufen konnten. An den Demonstrationen selbst hatten sie aber nur geringen Anteil. So machte der Religionssoziologe Detlef Pollack weiterhin in der FAZ darauf aufmerksam, dass «aus den September- und Oktobertagen des Jahres 1989 von den oppositionellen Gruppen in Leipzig nicht ein einziger Aufruf zum öffentlichen Protest» existiert.

    Mehr noch: Der Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil erklärte noch am 26. Oktober, dass das von ihm mitgegründete Neue Forum die mittlerweile alleine in Leipzig auf 300.000 Teilnehmer angewachsenen Demonstrationen «sehr kritisch» sehe. Anfang des Monats wurde in der Berliner Gethsemanekirche, einem wichtigen Treffpunkt der DDR-Opposition, sogar noch im Namen des Neuen Forums ein Flugblatt verbreitet, in dem mit Blick auf die Ereignisse in Dresden von «rechtsradikalen und antikommunistischen Tendenzen» sowie «blinden Aktionen» gesprochen wurde. Hier war in Ansätzen schon ein Ton zu hören, wie ihn später die gesamtdeutsche Linke in ihrem notorischen «Kampf gegen Rechts» verwenden sollte.

    _ Sven Reuth (*1973) ist Diplom-Ökonom und außen- sowie wirtschaftspolitischer Experte von COMPACT. In Ausgabe 8/2019 schrieb er über Combat 18 als Honigtopf der Geheimdienste.

    Diesen Artikel lesen Sie vollständig im COMPACT-Magazin 09/2019. Diese Ausgabe können Sie in digitaler oder gedruckter Form hier bestellen.

     

     

     

     

     

     

     

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