Schon im Wahljahr 2017 sollte die Innere Sicherheit zum zentralen Thema der deutschen Politik werden. Nichts ist geschehen. Auf unseren Straßen wird weiter geprügelt, zugestochen und gemordet. Warum packen die Sicherheitsbehörden nicht endlich zu? Weil das trügerische Idealbild der «Zivilgesellschaft» in der heutigen BRD ein Grundmisstrauen gegen den Staat fördert und einen wirklichen Kurswechsel verhindert.

    _ von Gerd Held

    Dieser Artikel erschien zuerst in der Spezial-Ausgabe Nr. 13.: Asyl. Unsere Toten von COMPACT-Magazin und wird Ihnen hier kostenlos in voller Länge zur Verfügung gestellt. Interesse am ganzen Heft? Hier klicken!

    Nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz mit zwölf Toten erwarteten viele Deutsche ein Umdenken von der Politik. Sie hofften, ihr Land würde zu jener Staatsräson zurückfinden, die als «wehrhafte Demokratie» einmal einen guten Namen hatte. Tatsächlich haben Terrorakte und alltägliche Gewalt ein Ausmaß erreicht, bei dem von einer offenen Herausforderung unseres Staatswesens gesprochen werden muss. Wird darauf nun entsprechend geantwortet?

    Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, denn das Thema Innere Sicherheit sollte zumindest das Wahljahr 2017 bestimmen. Doch ist es hier wie auf anderen Gebieten: Die Tatsache, dass etwas zum zentralen Thema wird, bedeutet nicht, dass man den Ernst der Lage offenlegt, damit dann auch schmerzhafte Eingriffe freimütig erörtert und durchgesetzt werden können. Tatsächlich scheint sich das notwendige Umdenken bereits zwischen minimalen Einzelmaßnahmen und maximalen Ursachenphilosophien aufzulösen.

    Die Vision des «offenen Deutschlands»

    Worin liegt das Sicherheitsproblem im Fall des Berliner Todesfahrers Anis Amri? Nicht in einer Unterschätzung des Täters oder in einer Nachlässigkeit beim Überwachen, sondern darin, dass man einen solchen Tätertypus nicht frühzeitig und bis zu seiner Abschiebung in Sicherheitsverwahrung genommen hat. Die Gesetze gibt es. Aber solange für deren Anwendung das Kriterium gilt, dass ein «konkreter Gefährdungssachverhalt» nachweisbar sein muss, ist diese Waffe stumpf. Eine Rund-um-die- Uhr-Observierung  aller potentiellen Gefährder ist eine abwegige Idee, und auch die Forderung nach mehr Personal ändert daran nichts. Sie ist eher als Ausrede zu verstehen, um sich nicht ernsthaft mit der Aufgabe präventiver Inhaftierung zu befassen.

    Hier ist eine Präferenz im Spiel, die ideologischer Natur ist: Eher wird eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen hingenommen, als die Vision eines «offenen Deutschlands» aufzugeben. Sind wir beim Thema Innere Sicherheit also weiter?  Würden die Regierenden in einem ähnlichen Fall jetzt anders handeln? Keineswegs, wir sind hier mit den gleichen Entscheidungsproblemen konfrontiert und strukturell unfähig, sie zu lösen.

    Ein zweiter Problemkomplex ist die sich ausbreitende Alltagsgewalt: die Hauseinbrüche und Taschendiebstähle, die Überfälle in U-Bahn-Stationen und Stadtparks, die Gewalt gegen Polizeibeamte, Feuerwehrleute, Busfahrer und Lehrer. Sehen wir für einen Moment von der Herkunft der Täter ab und schauen nur auf die Art der Taten: Es handelt sich nicht um monströse Einzelfälle, sondern um ein breites Vordringen in der Fläche, dem man viel weniger entkommen kann als dem Einzelattentat. Wie viele Menschen in Deutschland haben inzwischen ihre täglichen Heimwege von der Arbeit geändert, wie viele Frauen gehen nach Sonnenuntergang nicht mehr in ihren Park, wie viele Schüler meiden bestimmte Ecken im Umfeld ihrer Schule?

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    Diese Verschlechterung der Sicherheitslage ist schwer in den Griff zu bekommen. Die Dunkelziffern sind hoch, und die Polizei sagt zu Recht, sie könne nicht überall sein. Ein zuverlässiger Schutz ist hier ohne Zumutungen  nicht möglich. Dazu gehört zu Beispiel die systematische Anwendung von Videoüberwachung oder auch die organisierte Wachsamkeit der Bürger, als Neighbourhood Watch in den  USA seit langem wohlbekannt. Erheblich verringert werden müsste auch die leichtsinnige Gewohnheit, mit der Strafen immer wieder auf Bewährung verhängt werden – was dazu führt, dass Straftäter in den Alltag entlassen werden, ohne dass die Justiz die Mittel hätte, ihr Verhalten dann zu kontrollieren.

    Der Preis der Freiheit

    Diese Beispiele zeigen, dass eine erhöhte Wehrhaftigkeit keine Innovationen erfordert, sondern eine Änderung in der Rechtsgüterabwägung von öffentlicher Sicherheit und individueller Freiheit. Davon aber sind wir gegenwärtig weit entfernt, wie die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur Videoüberwachung vom 27. Dezember 2016 verdeutlichte. Deren Ausdehnung stünde in Konflik mit dem Gebot der «Verhältnismäßigkeit» staatlicher Eingriffe, erklärte der Vorsitzende Jens Gnisa, weil sie «die Freiheit einer Vielzahl von unbescholtenen Bürgern, die selbst keinen Anlass für Überwachung schaffen», einschränke. Dabei stellt jeder nicht gefasste Täter ebenfalls eine Einschränkung der Freiheit von Zigtausenden Bürgern dar! Doch das kommt in solchen Verhältnisrechnungen, die gerne als absolutes Gebot «des» Rechts ausgegeben werden, nicht vor.

    Die Fakten einer veränderte Sicherheitslage können diese Einstellung paradoxerweise nicht erschüttern. Das Prinzip, das so sehr auf die Freiheit des Einzelnen schaut und dabei die Freiheit der Vielen übersieht, herrscht unangetastet weiter. Daraus muss man lernen. Die Wiederherstellung der inneren Wehrhaftigkeit der Bundesrepublik wird sich nicht einfach spontan als Reaktion auf Ereignisse – und seien sie noch so monströs – ergeben. Die Wehrhaftigkeit kann nur wiedergefunden werden, wenn bestimmt Maßnahmen, die mit ihr verbunden sind, akzeptiert werden – etwa die Konfrontation, die mit Maßnahmen gegen Täter und deren konsequenter Bestrafung verbunden ist.

    Dieser Artikel erschien zuerst in COMPACT Spezial Nr. 13 – für weitere Infos einfach aufs Bild klicken.

    Hiergegen wird in Deutschland oft eingewendet: Die Härte der Sicherheitskräfte und der Justiz würde die Täter nur verhärten, Mut sei deshalb «kontraproduktiv ». Bisweilen wird sogar behauptet, Strafen seien nur eine Rache des Staates und deshalb mit dem Verbrechen auf eine Stufe zu stellen. Doch der Rechtsstaat steht nicht in einer Privatfehde mit dem Täter, er handelt im Auftrag der Gesetze und schützt damit die Allgemeinheit der Bürger. Bei der Wehrhaftigkeit ist Konfrontation also kein Selbstzweck.

    Vorwurf Generalverdacht

    Wenn Identitätskontrollen vorgenommen werden oder wenn Videoüberwachung installiert wird, treffen die Maßnahmen einen Kreis von Menschen, der viel größer ist als der der gesuchten Täter. Es ist üblich geworden, solches Vorgehen für illegitim zu erklären, weil es angeblich einen Generalverdacht erhebe. Aber jedes allgemeingültige Gesetz verlangt allgemeine Kontrollen zu seiner Einhaltung. Erst dann können Gesetzesbrecher herausgefiltert werden. Daher weist jede Gesetzesanwendung im ersten Schritt ein extremes Missverhältnis zwischen der Zahl der erfassten Personen und der Zahl der Gesetzesbrecher auf – man denke an Geschwindigkeitskontrollen im Straßenverkehr, an Einzeltische bei Prüfungsklausuren, an automatische Einkommensmeldungen bei den Finanzämtern und so weiter.

    Die Konjunktur des Wortes Generalverdacht zeigt nur, wie viel Staatsfremdheit gegenwärtig in Deutschland in Umlauf ist. Diese Staatsfremdheit ist erstaunlich leichtfertig. Soll insgeheim an die Stelle des Staates ein anderes Modell der Regulierung gesetzt werden? Etwa die sogenannte Zivilgesellschaft, die in ausdrücklicher Gegenüberstellung zum Staat definiert wird? In ihr regeln sich die Dinge angeblich durch das «Engagement» der Bürger, durch Dialog. Die befriedende Sogkraft des miteinander Redens soll die Härten der Wehrhaftigkeit überflüssig machen. Der Einfluss dieser Zivildoktrin in Deutschland scheint auch nach den jüngsten Gewaltexzessen ungebrochen. Dabei ist die «Zivilgesellschaft» mindestens ebenso eine Chimäre wie die «multikulturelle Gesellschaft».

    Zurück zum Grundgesetz

    Wie ist es so weit gekommen? Ist die Wehrhaftigkeit den Deutschen prinzipiell fremd? Nein, in der Geschichte der Bundesrepublik sind beide Tendenzen – Wehrhaftigkeit und Zivilität – angelegt. Beides waren Konsequenzen aus dem Ende der NS-Diktatur. Die eine suchte das Heil in einer möglichst großen Distanz zu jedwedem Staatswesen, weil sie das NS-Regime als Folge einer missratenen deutschen, vor allem preußischen Staatstradition verstand. Die andere sah im NS-Regime eine Verletzung aller rechtsstaatlichen Traditionen, die Deutschland schon entwickelt hatte. Daraus folgerte man, dass die Bundesrepublik wehrhafter gegen totalitäre Heilsansprüche sein müsste, als die Weimarer Republik es war. So entstand das Konzept der «wehrhaften Demokratie».

    An diesem Anfang der Bundesrepublik war auch die Wertschätzung für das Zivile groß, aber dies wurde nicht als Staatsersatz verstanden. Die Idee einer zivilen Gesellschaft beanspruchte nicht, der Angelpunkt des ganzen Landes zu sein. Das Grundgesetz enthält sowohl Wehrhaftigkeit als auch Zivilität. Erst in der weiteren Entwicklung ist die Zivildoktrin Schritt für Schritt dominant geworden. Jetzt zeigt sich, dass es so nicht weitergeht.

    Die Bundesrepublik steht vor der Aufgabe, die verdrängte Tradition der wehrhaften Demokratie wieder aufzunehmen. Das ist es, was eigentlich beim gegenwärtigen Streit um die Innere Sicherheit auf dem Spiel steht. Wir müssen wieder lernen, für eine wehrhaften Staat zu kämpfen – und überhaupt für ein bestimmtes, begrenztes Staatswesen und nicht für einen globalen «Gesellschaftsentwurf».

    Dieser Artikel erschien zuerst in der Spezial-Ausgabe Nr. 13.: Asyl. Unsere Toten von COMPACT-Magazin und wird Ihnen hier kostenlos in voller Länge zur Verfügung gestellt. Interesse am ganzen Heft? Hier klicken!

    _ Gerd Held (*1951) schreibt gegenwärtig als Publizist für verschiedene Online-Plattformen, zuvor unter anderem auch für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Die Welt. Bis zu seiner Pensionierung war er als Hochschuldozent für Stadt- und Raumplanung tätig.

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