Deutschland-Flagge statt Regenbogen-Fahne, Sport statt Politik – und eine Nationalmannschaft, auf die man noch stolz sein konnte. Die Unterschiede des WM-Klassikers von 1954 zur heutigen EM-Partie BRD : Ungarn könnten kaum unterschiedlicher sein. Mit COMPACT-Spezial Nationalsport Fußball – Herzschlag einer deutschen Leidenschaft lassen wir diese glorreichen Zeiten wiederaufleben. Hier mehr erfahren.

    Der Himmel über Bern hatte sich schon vormittags bedrohlich zugezogen. Eine dicke graue Wolkendecke lag über der Stadt, in der an diesem Tag, dem 4. Juli 1954, das Endspiel der 5. Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen wurde.

    Sensationell hatte die Mannschaft der Bundesrepublik Deutschland das Finale erreicht, und die ganze Welt rechnete nun mit einer klaren Niederlage gegen die hochfavorisierten Ungarn. Als zur Mittagszeit die ersten Regentropfen fielen, ging Trainer Sepp Herberger zu seinem Kapitän Fritz Walter und sagte: «Fritz, Ihr Wetter.» Dieser erwiderte: «Chef, ich hab nix dagegen.» Bei strömendem Regen liefen die Mannschaften dann auf…

    Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass es in den kommenden 90 Minuten zum ersten großen sportlichen Erfolg einer im Kriege niedergerungenen Nation kommen sollte. Deutschland war als Außenseiter in die Schweiz zu einer WM gefahren, die den Fußballsport für immer verändern sollte. Durch das neue Medium Fernsehen vervielfachte sich die Zuschauerzahl bei den Spielen, knapp 90 Millionen Menschen sollen weltweit die Partien vor insgesamt vier Millionen Schwarz-Weiß-Geräten verfolgt haben.

    Das Wankdorf-Stadion in Bern, Aufnahme vom April 1954. Foto: Werner Friedli, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons

    Die ARD übertrug schon damals immerhin acht der 26 Spiele live. Außerdem konnte man insofern von einer ersten richtigen Weltmeisterschaft sprechen, da alle Kontinente außer Ozeanien eine eigene Qualifikation ausgespielt hatten. Der Modus, der damals erstmals erprobt wurde – auf eine Vorrunde mit Gruppenspielen folgte eine K.-O.-Runde mit Ausscheidungsspielen – bewährte sich so gut, dass er in seiner Grundstruktur bis heute gültig geblieben ist.

    Unbezwingbare Magyaren

    Das Gastgeberland hatte weder Kosten noch Mühen gescheut und in Basel, Lausanne und Lugano drei nagelneue Fußballtempel erbaut. Das Wankdorfstadion in der Hauptstadt Bern war auf ein Fassungsvermögen von 65.000 Plätzen erweitert worden und damit die größte WM-Arena.

    Auf sportlicher Ebene schien schon vor dem Eröffnungsspiel alles klar zu sein: Die Ungarn galten als Wundermannschaft, als unbesiegbare Aranycsapat («Goldene Elf»), die den Fußballsport revolutioniert hatte. Schon bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki war die Dominanz der Magyaren total: Die Mannschaft holte die Goldmedaille mit dem unglaublichen Torverhältnis von 20:2 Treffern.

    Am 25. November 1953 folgte dann das als Spiel des Jahrhunderts bezeichnete Duell gegen England, durch das die ungarische Fußball-Nationalmannschaft endgültig zur Legende wurde. Neunzig Jahre lang waren die Engländer auf heimischem Boden unbesiegt geblieben, doch Ungarn gewann auf dem heiligen Rasen von Wembley mit 6:3. Kopf der Siegesmannschaft war Mittelstürmer Ferenc Puskas, der in 85 Länderspielen 84 Tore erzielte – und der eigentlich deutscher Herkunft war und Franz Purzeld hieß.

    Auch die deutschen Namen zweier weiterer Stützen der Goldenen Elf wurden nachträglich magyarisiert: Sandor Kocsis hieß eigentlich Alexander Wagner, Ferdinand Kaltenbrunner wurde zu Nandor Hidegkuti. Als die Ungarn den Engländern beim Rückspiel in Budapest am 23. Mai 1954 ganz kurz vor der Weltmeisterschaft in der Schweiz mit 7:1 auch noch die bis dato höchste Niederlage in ihrer Länderspielgeschichte beibrachten, schien ihr Titelgewinn in der Schweiz nur noch reine Formsache zu sein.

    Die Situation in Deutschland stellte sich hingegen völlig anders dar. An der Fußball-Weltmeisterschaft des Jahres 1950 in Brasilien hatten die Kriegsverlierer nicht teilnehmen dürfen. Sepp Herberger, der schon von 1938 bis 1944 als Reichstrainer die Nationalmannschaft betreut hatte, war im Februar 1950 in das Amt eines Bundestrainers berufen worden.

    Szene aus Sönke Wortmanns preisgekröntem Spielfilm «Das Wunder von Bern» (2003): Die ungarische und die deutsche Mannschaft beim Stadioneinlauf. Foto: picture alliance
    / kpa

    Fußballerisch waren die Deutschen geradezu ausgehungert. In Stuttgart hatten sich am 22. November 1950 sage und schreibe 115.000 Zuschauer ins Neckarstadion gedrängelt, um das erste Nachkriegsländerspiel gegen die Schweiz zu sehen, das mit 1:0 knapp gewonnen werden konnte. Gut zwei Monate später waren wieder 100.000 Menschen in das Berliner Olympiastadion geströmt, um die Herberger-Schützlinge bei einem weiteren Freundschaftsspiel zu unterstützen. Gegen das damalige Fußball-Entwicklungsland Türkei kassierte man allerdings eine 1:2-Niederlage.

    Als die Deutschen im Jahr darauf auch noch mit 1:3 bei einer Partie gegen Frankreich in Paris verloren, nahm die Kritik an Herberger Orkanstärke an. Mannschaftskapitän Fritz Walter fühlte sich nun sogar dazu verpflichtet, seinen Trainer in einem Leserbrief an die Fachzeitschrift Fußball als «Kamerad», «Freund» und «unübertrefflichen Lehrer» in Schutz zu nehmen.

    Herberger versuchte wiederum alles, um das pfälzische Fußballgenie in Deutschland zu halten, und tatsächlich lehnte Walter 1951 ein Angebot von Atletico Madrid ab, das dem Fußballer ein für damalige Verhältnisse traumhaftes Einkommen und zahlreiche Privilegien gebracht hätte. Um den Ausnahmesportler herum baute der Bundestrainer damals mit dessen Bruder Ottmar sowie Werner Kohlmeyer, Horst Eckel und Werner Liebrich die Nationalelf – allesamt Spieler des 1. FC Kaiserslautern, des Anfang der 1950er Jahre dominierenden Vereins in der Bundesrepublik.

    Während man in Italien, Spanien oder England zu dieser Zeit als Fußballer schon reich werden konnte, waren die deutschen Nationalspieler Amateure, die nicht für Millionensummen, sondern für den schwarzen Adler auf der Brust spielten. «Wir gingen zur Arbeit wie jeder andere, von morgens halb acht bis abends um fünf», sagte Ottmar Walter später einmal.

    «Rahn schießt. TOOOR!»

    Im Sommer 1954 schien sich zunächst zu bewahrheiten, dass es für die deutsche Auswahl nur um das olympische Motto «Dabeisein ist alles» gehen konnte. Gegen die ungarischen Favoriten, auf die man erstmals in der Vorrunde traf, kassierte die Herberger-Truppe eine krachende 3:8-Niederlage – und nur ein gewonnenes Entscheidungsspiel gegen die Türkei brachte den Einzug in die Hauptrunde. Hier überraschten die Deutschen allerdings mit Siegen gegen Jugoslawien und Österreich im Viertel- und Halbfinale.

    Im Finale gegen die übermächtigen Magyaren hätte trotzdem keiner auch nur einen Pfifferling auf die Mannen um Fritz Walter gegeben. Die englischen Buchmacher weigerten sich sogar, Wetten anzunehmen, da der Ausgang ohnehin klar zu sein schien. Bei ihren bisherigen vier WM-Spielen hatten die Ungarn ihre Gegner mit 25:7 Toren vom Platz geschossen.

    Die Goldene Elf konnte damit ihren Weltrekord ausbauen: 32 Spiele nacheinander war man nun unbesiegt geblieben! Der deutsche Radioreporter Herbert Zimmermann, dessen atemlose Kommentierung mittlerweile ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist, versuchte schon vor dem Spiel die Erwartungen der Zuhörer mit dem Hinweis zu dämpfen, dass es schon ein Riesenerfolg sei, im Finale zu stehen.

    Jubel nach dem Siegestor: 3:2 – Deutschland ist Weltmeister. Foto: Foto: picture alliance / UPI/dpa

    Die Mannschaft und ihr Trainer aber glaubten an sich. Und der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Nach dem Anpfiff im strömenden Regen gingen allerdings zunächst die Ungarn erwartungsgemäß in Führung. Nach zehn Minuten stand es sogar schon 2:0. Doch dann verwandelte sich das Spiel in eines der größten Fußball-Märchen aller Zeiten: das Wunder von Bern! Noch vor der Halbzeitpause glichen die Deutschen durch Tore von Max Morlock und Helmut Rahn aus.

    Nachdem der Referee die Partei wieder angepfiffen hatte, kämpften beide Mannschaften wie die Berserker, doch es fiel kein Tor. Dann kam die 84. Minute – und es geschah das Unglaubliche. Der legendäre Kommentar von Herbert Zimmermann spricht für sich:

    «Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern. Keiner wankt. Der Regen prasselt unaufhörlich hernieder. (…) Schäfer nach innen geflankt. Kopfball! Abgewehrt! Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt. TOOOOOOOOR! TOOOOOOR! TOOOOR! TOR!…Tor für Deutschland. Linksschuss von Rahn.»

    Der «Boss» aus dem Pott hatte zwei ungarische Abwehrspieler ausgespielt und den Ball in der linken unteren Ecke des Tores versenkt. Das Unglaubliche war vollbracht: Die unbezwingbare «Goldene Elf» war bezwungen – und wir waren Weltmeister!

    Wiederaufrichtung des Landes

    Nach dem Schlusspfiff intonierte eine Schweizer Kapelle die Hymne des Siegers – und tausende Zuschauer auf den Rängen sangen mit. Pierre Fabert, Korrespondent der französischen Tageszeitung Le Monde vermeldete:

    Die Zehntausende von Deutschen stehen still. Die Aufschreie enden. Die Musik intoniert ”Deutschland, Deutschland über alles”. Die Menge singt mit. Die Erde zittert. Es regnet. Es regnet, und mir ist kalt.

    Dem Schweizer Rundfunk war das nicht ganz geheuer und er unterbrach seine Übertragung.

    Die Ungarn zeigten sich trotz ihrer grenzenlosen Enttäuschung als faire Verlierer – ihr Trainer Gusztav Sebes suchte nach dem Spiel die Kabine der deutschen Mannschaft auf, um Herberger zu gratulieren. Als Prämie gab es für unsere Spieler gerade einmal 2.000 D-Mark und ein Moped.

    Es war eben nicht eine, wie es oft kolportiert wurde, reine Wir-sind-wieder-wer-Haltung, die nach dem WM-Triumph nach außen gekehrt wurde – das Wunder von Bern bedeutete nach Jahren der Depression einen Moment der Freude und des Selbstbewusstseins für ein besiegtes, zerstörtes, totgesagtes und geteiltes Land, das ein Erfolgserlebnis bitter nötig hatte. Egal, was für sportliche Erfolge noch vor deutschen Mannschaften liegen mögen, die Magie des Finales von Bern bleibt wegen der besonderen und unwiederholbaren historischen Situation wohl für alle Zeiten unerreichbar!

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